Ein “Jubilar” erinnert sich..

 

von Traugott Böhlke aus dem Jahre 2001 anläßlich der 800-Jahr-Feier
in Hücker-Aschen.

 

Kinder- und Jugendjahre

in Hücker-Aschen

ein Rückblick “nicht im Zorn”

 

800-Jahr-Feier in Hücker-Aschen! Und ich war dabei! Allerdings nur als Noch-Nicht-Geborener, denn das Licht der Welt erblickte ich erst im Dezember des Jubiläumsjahres, bin also Angehöriger der Generation, die die Differenz zwischen den beiden Jubiläumsfeiern ausmacht (oder anders ausgedrückt: Wir sind die, die in diesem Jahr 50 werden!).

Mein Thema also: Kindheit und Jugend in Hücker-Aschen, Pfarrerskind in den 50er und 60er-Jahren. Ich schreibe „unrecherchiert“, denn Aufzeichnungen habe ich kaum, und auf die räumliche Entfernung lassen sich keine genaueren Nachforschungen anstellen.

Geboren im Herforder Krankenhaus, verlebte ich die ersten beiden Lebensjahre in jener ehemaligen Zigarrenfabrik, die später auch Gemeindehaus, Kindergarten, Küsterwohnung wurde und die heute (bestens renoviert!) Dorothea und Martin Müllers Firma beherbergt.

Unser Vater war als junger Pfarrer (nicht ungern!) in Hücker-Aschen „hängengeblieben“; er hatte während des Krieges zum Kriegsdienst eingezogene Amtsbrüder aus Spenge vertreten. Er selber war nur sehr kurz Soldat: als fast Blinder war mit ihm nun wahrlich kein Krieg zu führen…

Und so wirkte im Jubiläumsjahr 1951 ein tolles Team in der kleinen Kirche von Hücker-Aschen: ein schwerhöriger Organist, ein körperbehinderter Küster und ein fast blinder Pastor… Aber es ging! Dazu kam noch eine Rad fahrende Diakonisse und viele, viele Helfer.

Geläutet wurden die Glocken im 1953 errichteten Glockenturm noch per Hand: Herr Barth, der Küster und reihum irgendwie eingeteilte Jugendliche zogen an den Tauen. Trauerzüge von der Kirche oder vom Trauerhaus aus begleitete der Posaunenchor (bei Wind und Wetter!). Unter dem Kirchturm war ein Aufbahrungskeller. Und in der Kirche befand sich eine abenteuerliche Orgel (nach dem Krieg preiswert von einer Bielefelder Loge erstanden), die sich gelegentlich entsetzliche „Heuler“ leistete. An dieser Orgel haben sämtliche Böhlke-Kinder gesessen. Die wunderschönen Kirchenfenster konnten erst viel später erworben werden.

1953 zog die Familie in das neugebaute Pfarrhaus Klein-Aschen180 mit dem großen Garten (für jede Menge Gemüse und Obst, dazu ein Hühnerstall mit glücklichen, weil freilaufenden Hühnern). Middendorfs („Tante Emma“) Wiese war noch längst nicht bebaut: dort grasten zwei Kühe. Im Herbst stand diese Wiese unter Wasser, im Winter fror sie zu: das ergab eines unserer beliebtesten Spielgebiete, nicht immer zur Freude der Besitzerin…

An Sommerabenden – so erinnere ich mich gut – schlief ich en mit wohlbekannten Geräuschen im Ohr: vor dem Fenster die singende Amsel, unten im Haus übte eines meiner großen Geschwister Klavier und von Mettings, unseren Nachbarn, klang es immer fröhlich zu uns herüber: dort saßen mehrere Generationen vor dem Haus und erzählten und lachten und ließen so den Tag Revue passieren.

Sowieso, unsere Nachbarn, Nachbarschaft in Hücker-Aschen: Morgens ganz in der Frühe LKW-Geräusche: Herr Haubrock, unser anderer Nachbar, machte sich und seinen kleinen Fuhrpark startklar. Uns gegenüber war Oskar Kirchhoff mit seinem Betrieb. Und auch unsere anderen Nachbarn – wir hatten sehr viele, da wir die „alten“ sozusagen mitgenommen hatten – alle waren es wirklich gute Nachbarn!

Als kleiner Junge war ich sehr viel im Dorf „unterwegs“. Das ging ja noch problemlos bei den paar Autos! Rollschuh laufen den Schulberg runter (erst viel später hat mir meine Mutter erzählt, wie sehr sie das mit Sorge beobachtet hat…); Baden in der Warmenau unten in Lenniers Wiese (Schwimmer durften oben am Knick ins Wasser); stundenlang mit Ernst Wehrmann auf dem Feld sein (anfangs noch gelegentlich mit dem Pferd, später mit dem Trecker); und oft ließ ich mich bei meinen Streifzügen auch von meiner Nase leiten und kreuzte rein zufällig dort auf, wo gerade Pickerts gebacken wurden...

Unsere Milch holten wir damals im Echternort bei Vogts: täglich musste eines von uns Kindern dorthin laufen oder mit dem Rad fahren und die Kanne mit der Milche holen. Und gelegentlich – der Weg war nur mäßig befestigt – fielen Kind samt Kanne auch hin: das gab dann einen milchlosen Tag: Und obendrein noch Ärger…

Sonntags war natürlich Gottesdienst: erst die Großen, dann der Kindergottesdienst. Wir Kinder trafen uns dann immer vor dem Laden von Martha Metting neben der Kirche, saßen und turnten auf einer Stange vor dem Schaufenster (wozu war eigentlich diese Stange?). Und in der Kirche gab es – ich mag es kaum erwähnen – jenen mit dem Kopf nickenden „Neger“, den die Geburtstagskinder der Woche mit genau der Zahl Groschen fütterten wie sie alt geworden waren.

Mein absolut schönster Spielplatz war Ewerings Mühle: mit Wilhelm und Gottlieb dort Rollschuh laufen, Sackkarren fahren, daraus Rennfahrzeuge basteln (durfte Vater Ewering nicht sehen!) und damit den Brink runterdüsen. Geholfen und gearbeitet wurde da natürlich auch: zum Beispiel hießen die Herbstferien noch Kartoffelferien und machten ihrem Namen alle Ehre…

Im Winter: Schlitten fahren am Echternort („Todesbahn“ und „Waldbahn“) oder auf dem Kniggenbrink. Und natürlich mit Schlittschuhen auf dem Eis des Hücker Moores, wo im Sommer die Paddelboote waren!

Ostern 1958: Einschulung in der Schule Hücker bei Fräulein Pietsch. Anders als heute: wir kannten uns bereits alle aus dem Dorf, keiner musste von irgendwoher mit dem Schulbus kommen. Zudem hatten wir ja auch zum größten Teil alle eine gemeinsame Kindergartenzeit hinter uns. Ab dem dritten Schuljahr war Herr Möller unser Lehrer, später kam noch Fräulein Begemann (Frau Kupfer!) dazu. Herr Möller brachte uns nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen bei: er hat uns auch mit Hermann Löns‘ „Mümmelmann“ vertraut gemacht, mit den Bienen (die zu unserer Freude gelegentlich während der Unterrichtszeit schwärmten…) und auf zahlreichen Wanderungen mit der näheren Heimat (erst da habe ich gelernt, wie viele und welche Gräser und Pflanzen am Wegesrand wachsen!). In manchen Pausen haben wir uns (zumindest einige) klammheimlich verdrückt: Hermann Dieckmann führte uns in die elterliche Backstube: schließlich musste nach den „Resten“ des soeben beendeten Backens geschaut werden…

Zeitweise hatten wir keinen Religionslehrer. Unser Vater sprang dann ein (was einem als Sohn abverlangt, ein besonders guter Schüler zu sein!). Wenn ich mich recht entsinne, einmal sogar über einen längeren Zeitraum; vertrauensvoll wurde er von den kleineren Schülern dann mit „Onkel Pastor“ angeredet. Während einer Pause (das Pausenende wurde übrigens immer mit so einem merkwürdigen Metallteil eingeläutet, angeblich einem Rest einer Bombe oder so) waren einmal alle Kinder unter der Aufsicht von Herrn Möller und meinem Vater auf dem Schulhof, als einem der beiden Herren wohl der Gedanke gekommen war, sich sportlich zu betätigen. Und unter dem Gejohle und dem Staunen sämtlicher Kinder kletterten sie um die Wette die beiden Kletterstangen hoch: der Lehrer und der Pastor. Unerhört, so was!

Sowieso, der Sport!

Ich erinnere mich an umfangreiche Vorbereitungsmaßnahmen des CVJM fürs gemeinsame Sportabzeichen, da wurde trainiert, eine Laufstrecke vermessen am Echternort, usw. Schließlich die Meldung in der regionalen Presse: Pastor macht mit den CVJM-Jugendlichen das Sportabzeichen (Wahnsinn: ein Pastor in Turnhose!!!).

Noch „schlimmer“ traf es sich eines schönen Sommertages im Bünder Freibad: Nur sehr selten kam es vor, dass unser Vater zum Baden mitging, zu sehr war er zeitlich eingebunden in seine Arbeit. Aber an dem Tag muss es wohl besonders heiß gewesen sein. Ich erinnere mich an seine fürchterliche (weil völlig unmoderne!) Badehose, die ich als Sohn recht peinlich empfand.

Aber es kam noch schlimmer: Mein Vater stieg (er war da schon über 50!) auf den Sprungturm, inspizierte die 5-m-Plattform – bis zu dem Zeitpunkt habe ich mich noch sehr geschämt – und machte dann einen wirklich perfekten Handstand, gefolgt von einem eleganten Überschlag und mit dem Kopf voran – äußerst sauber – ins Wasser. Mir und meinen Bünder Freunden hat’s die Sprache verschlagen. – Nur als ich dann zu Hause ganz stolz über diese Sportsensation berichten wollte, winkte meine Mutter wissend ab: „Mit dem Sprung hat er mich schon als junge Frau beeindruckt, dass er den noch hinkriegt…!“

Je länger ich in meinem Kopf krame, desto mehr fällt mir ein: Gemeindeausflüge, Kindergottesdienstfeste auf diversen Kuhwiesen des Dorfes, Altennachmittag am Erntedankfest, Volksliederabende am Hücker Moor, Krippenspiele zu Weihnachten. Fahrten zum Herforder Theater, Sennetreffen, Zelten der Jungschar am Blauen See im Wiehengebirge, Nachwuchsförderung und –unterricht im Posaunenchor durch Helmut Klausing…und…und…und.

Naja, und Pastors Kinder immer irgendwo mittendrin dabei.

Wenn ich heute so oft Menschen klagen höre über eine schwere Kindheit: Ich kann mich dem nicht anschließen: wir hatten längst nicht alles, unser „Reichtum“ bestand aus ganz anderen Dingen: aus guter Nachbarschaft, fröhlichem Spielen, wenig Neid und Missgunst. Es gab viele Einschränkungen, die wir oftmals gar nicht als solche wahrgenommen haben.

Vielleicht müssten wir alle uns viel mehr an jene Nachkriegs- und Aufbauzeit entsinnen, die mich zumindest nachhaltig geprägt hat und derer ich mich dankbar erinnere.

Dankbar auch und ganz besonders in Bezug auf die Menschen in Hücker-Aschen.

Traugott Böhlke

Quelle: Festschrift vom Dorffest (850 Jahr Feier).

 

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