Vortrag von Dr. Norbert Sahrhage anlässlich
der Feierstunde am 04. Nov. 1991

 

Sehr geehrtes Ehepaar Spiegel,

sehr geehrter Herr Landesrabbiner,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

wir treffen uns hier 47 Jahre nach einem kaltblütigen Mord.

Das ist eine Zeitspanne, mehr als ein halbes Menschenleben. So lange hat es gebraucht, bis sich die Bevölkerung dieser Region an das Schicksal Franziska Spiegels erinnert, die wenige Monate vor Kriegsende von zwei Mitgliedern jenes Ordens ermordet wurde, der sich als "Kampftruppe" aus den "blutsmäßig besten Deutschen" verstand.

Es handelte sich bei diesen SS-Männern um die Angehörigen einer Einheit, die in den Novembertagen des Jahres 1944 das Gebiet des Landkreises Herford durchquerte und hier für wenige Tage Station machte.

Ein NSDAP-Funktionär aus einem Nachbarort informierte die SS-Männer über die in der Gemeinde Werfen lebende jüdische Frau. Daraufhin kam es zu der entsetzlichen Tat im Hücker-Holz. Systematische Nachforschungen nach den Tätern hat es weder im November 1944 noch nach Kriegsende gegeben.

Der Mord ist bis heute ungesühnt geblieben.

Fragt man, wie es zu dieser entsetzlichen Tat kommen konnte, so genügt es nicht, darauf zu verweisen, daß der Mord von auswärtigen SS-Leuten begangen worden ist. Der Denunziant Franziska Spiegels war ein Einheimischer, und dass die Untat im Jahre 1944 überhaupt stattfinden konnte, setzte eine über Jahre hin bestehende Loyalität von großen Teilen der Bevölkerung dem nationalsozialistischen Regime gegenüber voraus. Diese Loyalität bestand lange Zeit auch in der Region. So gesehen hat auch die einheimische Bevölkerung einen Beitrag dazu geleistet, dass unmenschliches Handeln hier und anderswo stattfinden konnte. Die Akzeptanz der nationalsozialistischen Regierung in der Bevölkerung bröckelte zwar seit Stalingrad, aber wohl weniger wegen möglicher moralischer Bedenken, sondern eher aus Gründen der verschlechterten Kriegs- und Ernährungslage.

Der Nationalsozialismus war kein Phänomen, das die heimische Bevölkerung erst im Jahre 1933 überraschte.

Die Grundpfeiler des "Dritten Reiches" in der Region reichen bis in die Anfänge der Weimarer Republik, ja sogar bis in die Zeit des Kaiserreichs zurück, als die antisemitisch orientierte Christlich Soziale Partei des Berliner Hofpredigers Adolf Stöcker bei den Wahlen zum Reichstag auch in Spenge und Umgebung erhebliche Stimmenanteile für sich verbuchen konnte. 14

Unmittelbar nach der Revolution 1918/19 existierten in verschiedenen Städten des Kreises Herford Ortsgruppen des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, der ebenfalls mit einem betont antisemitischen Programm in Erscheinung trat. In den 1920er Jahren wurden zudem in verschiedenen Ämtern des Landkreises Ortsgruppen des Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, gegründet. Auf Reichsebene schloß sich der Stahlhelm im Jahre 1931 mit der NSDAP und der DNVP zur Harzburger Front zusammen. Diese Koalition, die massiv die Weimarer Demokratie bekämpfte, bildete am 30. Januar 1933 die Basis für das erste Kabinett Hitlers.

Die Ortsgruppen des Stahlhelm kooperierten häufig mit den Kriegervereinen, deren zahlreiche Mitglieder dem Kaiserreich nachtrauerten und der Weimarer Republik mit ihren "Erfüllungspolitikern", die dem "Versailler Friedensvertrag" zugestimmt hatten, distanziert gegenüberstanden. Die Mitglieder dieser Verbände stammten weitgehend aus dem gehobenen Bürgertum. Dadurch bekamen antirepublikanische und antidemokratische Einstellungen eine allgemeine Akzeptanz.

Mitte der 1920er Jahre wurden auch in der Stadt und im Gebiet des Landkreises Herford Ortsgruppen der NSDAP gegründet. Die ersten Gründungen erfolgten in Herford und Bünde, später kamen Ortsgruppen in den kleinere n Dörfern hinzu. Die Nationalsozialistische Partei blieb zunächst jedoch ohne Massenbasis. Das änderte sich aber mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929. Parallel zu den Erfolgen der Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen seit 1930 nahm auch in den Gemeinden des Kreises Herford die Zahl der NSDAP-Ortsgruppen zu. Die Mitgliederzahlen stiegen stetig. Die Ortsgruppe Herford zählte im April 1932 bereits etwa 1.000 Mitglieder, die Ortsgruppen in Bünde und Enger je knapp 700.

Auch das politische Klima radikalisierte sich. Es kam zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der NSDAP auf der einen und SPD- bzw. KPD-Anhängern auf der andere n Seite. Die „berühmt“ gewordene Spenger Saalschlacht am 8. Juli 1932 war hierbei kein Einzelfall.

Als Hitler am 30.1.1933 vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde, formierten sich an diesem Abend auch in verschiedenen Orten des Landkreises Herford die Mitglieder der NSDAP und des Stahlhelm zu großen Fackelzügen, die an den Kriegerdenkmalen endeten.

Bei der Reichstagswahl am 5.3.1933 gelang der NSDAP im Landkreis Herford mit 49,6% der abgegebenen gültigen Stimmen ein deutlicher Erfolg, wobei die Herforder NSDAP-Ergebnisse deutlich über dem Reichsdurchschnitt lagen. In einigen Gemeinden des Amtes Spenge, so z.B. in Hücker-Aschen und Wallenbrück, wurde sogar die 50% Marke übertroffen. In der Gemeinde Bardüttingdorf wurde die NSDAP von 73% der Bevölkerung gewählt.

Dem Wahlerfolg der Nationalsozialisten auf Reichsebene folgte nach der am 12.3.1933 durchgeführten Kommunalwahlen die "Machtergreifung" auf der lokalen Ebene. Das war die Zeit der "Märzgefallenen", jener Bürger, die rasch der Partei beitraten , weil sie sonst berufliche Konsequenzen befürchtete n oder sich bessere Aufstiegsmöglichkeiten erhofften. Innerhalb kurzer Zeit waren die leitenden Kommunalbeamten, viele Lehrer, aber auch zahlreiche kleine und große Geschäftsleute Mitglied in der NSDAP.

Nunmehr erfolgte eine Überprüfung der parlamentarischen bzw. kommunalpolitischen Funktionsträger. Die Mitglieder zunächst der KPD, dann der SPD, etwas später auch der bürgerlichen Parteien, verloren ihre Mandate. Schließlich - gegen Ende des Jahre s 1933 - wurde das Prinzip der bürgerschaftlichen Selbstverwaltung ganz aufgehoben: Die Gemeinderäte wurden nun nicht mehr gewählt, sondern ernannt. Ihre Aufgabe bestand nur noch darin, in nicht öffentlicher Sitzung die Gemeindeleiter zu beraten.

Nach der Erringung der parlamentarisch-politischen Schlüsselpositionen ging es den Nationalsozialisten in der Folgezeit darum, ihre Partei als zentrales Element der "Volksgemeinschaft" darzustellen. Eine besondere Bedeutung besaßen hierbei die von der Reichsregierung angeordneten Feiern zum 1. Mai. Daß die Kundgebungen zum 1. Mai bloße Propagandaveranstaltungen waren, um die Arbeiterschaft für den NS-Staat zu gewinnen, erwies sich bereits am Tag nach dem 1. Mai des Jahres 1933, als die Büros der Gewerkschaften besetzt und ihr Vermögen beschlagnahmt wurden.

Im Verlaufe des Jahres 1933 erfolgte auch die "Gleichschaltung" der bürgerlichen Vereine. Sie bestand darin, anstelle von Mehrheitsentscheidungen in den gewählten Vorstanden das "Führerprinzip" einzuführen und eine im nationalsozialistischen Sinne "zuverlässige" Vereinsführung zu installieren.

Beschreibt man die Situation Mitte der 1930er Jahre, so bleibt festzuhalten, dass sich große Teile der Bevölkerung mehr oder weniger gut mit dem Nationalsozialismus arrangiert hatten. Es gab zwar Konflikte zwischen den Deutschen Christen und Der Bekennenden Kirche, es gab Gruppierungen innerhalb der Arbeiterschaft, die Widerstand gegen das Regime zu leisten versuchten, es gab die Gruppe der Bibelforscher, die trotz Verfolgung ihre Religion weiter ausübten: gleichwohl gilt, daß die Mehrheit der Bevölkerung der nationalsozialistischen Regierung bei freien Wahlen ihre Stimme gegeben hätte.

Große Teile der Bevölkerung wollten nicht wahrnehmen, was jeder sehen konnte, der auch nur halbwegs politisch interessiert war: Die Ausgrenzung und Verfolgung der zahlenmäßig kleinen Gruppe der Juden. Die Mehrheit der Bevölkerung war offenkundig bereit, über die Verfolgung dieser Minderheit hinwegzusehen, wenn im Gegenzug dazu nur die eigene Lebenssituation unangetastet blieb und die wirtschaftlichen Verhältnisse Stabilität versprachen.

Die jüdische Bevölkerung der Stadt und des Landkreises Herford umfaßte im Jahre 1933 etwas mehr als 350 Personen, was etwa 0,15% der Gesamtbevölkerung entsprach. Die Mehrzahl der Juden lebte in den Städten Herford, Bünde und Vlotho, wo auch Synagogengemeinden bestanden, so wie in der Kleinstadt Enger. In den übrigen Ämtern des Landkreises Herford wohnten nur vereinzelt Juden.

Vor der nationalsozialistischen "Machtergreifung" war die Assimilierung der jüdischen Bevölkerung vorangeschritten. Eine große Anzahl jüdischer Familien lebte bereits seit Generationen in der Stadt Herford und im Kreisgebiet, die überwiegende Mehrzahl der berufstätigen Juden betrieb eigene Geschäfte, wobei das Schwergewicht auf dem Verkauf von Manufakturwaren und Textilien lag. Einige Juden hatten im 19. Jahrhundert den Aufstieg vom Geldverleiher oder Kleinhändler zum industriellen Unternehmer geschafft. In mehreren Fällen wurden die Unternehmen gemeinsam mit einem christlichen Kompagnon geführt.

Vor dem Ersten Weltkrieg hatte es in den Städten des Kreises Herford mehrere jüdische Schützenkönige und -königinnen gegeben, auch die Turn- und Gesangvereine in Herford, Bünde, Enger und Vlotho besaßen jüdische Mitglieder. Juden nahmen zudem politische Ehrenämter wahr und stellten sich in den Dienst der Allgemeinheit, indem sie sich z.B. als Schöffen bei Gericht oder in der örtlichen Feuerwehr engagierten.

Unmittelbar nach der nationalsozialistischen "Machtergreifung" setzte auch im Herforder Raum die Verfolgung der Juden ein. Sie war in dieser ersten Phase durch Boykottaktionen und persönliche Diskriminierungen gekennzeichnet. Beträchtliche Teile der jüdischen Bevölkerung wanderten daraufhin seit der Mitte der 1930er Jahre aus oder ab. Einen ersten Höhepunkt der Ausgrenzung bildeten Die Nürnberger Rassegesetze des Jahres 1935, die die Juden zu Bürgern zweiter Klasse degradierten.

Während des Novemberpogroms 1938 wurden auch in Herford, Bünde und Vlotho die Synagogen zerstört und zahlreiche jüdische Geschäftshäuser demoliert. Besonders schlimm waren die Ausschreitungen in der Stadt Bünde. In Anwesenheit des Herforder Landrates Hartmann wurde die Synagoge aufgebrochen, ihr Inventar zertrümmert und verbrannt. Die Kultgegenstände wurden durch den Ort getragen. Mehrere Wohnhäuser von Juden waren Ziel weiterer Übergriffe. Den Höhepunkt erreichte der Pogrom hier in der Nacht vom 10. auf den 11. November, als das zuvor geplünderte Manufakturwarengeschäft der Familie Spanier in Brand gesetzt wurde.

Im Jahre 1938 wurde zudem die sogenannte "Arisierung" eingeleitet. Bis 1942 gelangten zahlreiche jüdische Wohn- und Geschäftshäuser in "arischen" Besitz. Die nicht "arisierten" Immobilien wurden im Anschluß an die Deportation der Juden vom Deutschen Reich beschlagnahmt. Die noch in Herford, Bünde, Vlotho und Enger verbliebenen Juden wurden jeweils einige Tage vor den Abtransporten in die Konzentrationslager mit Lastwagen nach Bielefeld gebracht, wo in verschiedenen Auffanglagern jüdische Familien aus ganz Ostwestfalen zusammengetrieben wurden. Die Deportation der Juden aus dem Landkreis Herford erfolgte in drei Bahntransporten am 13.12.1941, am 31.3. und am 31.7.1942. Die Deportationen gingen zunächst u.a. nach Treblinka und Theresienstadt. Von dort aus wurde z.T. ein Weitertransport nach Auschwitz vorgenommen.

Am 12.2.1945, wenige Wochen vor Kriegsende, fand noch ein weiterer Transport für jene Jüdinnen statt, die - nach nationalsozialistischem Sprachgebrauch - in "privilegierter Mischehe" lebten, d.h. mit "arischen" Männern verheiratet waren. Diesem Transport hätte vermutlich auch Frau Spiegel angehört, wäre sie noch am Leben gewesen.

Zählt man die zuvor aus- oder abgewanderten Juden mit dazu, die noch in die Hände der Nationalsozialisten fielen, so sind insgesamt mehr als 160 aus dem Gebiet der Stadt und des Landkreises Herford stammende Juden in verschiedenen Konzentrationslagern ermordet worden.

Nach 1945 dauerte es sehr lange, bis „Wiedergutmachungsmaßnahmen" für die jüdische Bevölkerung erfolgten. Es sei hier nur am Rande angemerkt, dass der eingeführte Begriff "Wiedergutmachung" die Maßnahmen nur sehr unzutreffend beschreibt, täuscht er doch eine Wiederinstandsetzung in den alten Stand vor, die nicht erfolgte, auch gar nicht erfolgen konnte. Die nationalsozialistischen Täter waren bereits "entnazifiziert" und gesellschaftlich wieder etabliert, als man sich intensiver um die Verfolgten des Regimes zu kümmern begann. Eine wirkliche Integration der wenigen Juden, die nach ihrer Befreiung aus den Konzentrationslagern in die Stadt und in den Landkreis Herford zurückkehrten, konnte u.a. auch deshalb nicht stattfinden.

Abschließend möchte ich noch einen Gedanken aufgreifen, den Herr Barsilay vor drei Jahren anläßlich der Einweihung eines Mahnmals in der Stadt Bünde geäußert hat: Nicht die von den Medien vorgegebene Erinnerung alle 10 oder 25 Jahre an bestimmte Ereignisse führt zu einer Veränderung des Denkens, sondern die permanente Auseinandersetzung mit der Geschichte.

Das umfassende Gedenken am 9. November 1988 anläßlich des 50. Jahrestags der Reichspogromnacht hat einerseits vielen Menschen die Ereignisse in der Schreckensnacht wieder vor Augen geführt, andererseits konnte dieser einmalige Akt nicht verhindern, dass bereits kurze Zeit später dieses Thema wieder abgehakt war.

Am 51. Jahrestag der Reichspogromnacht hat kaum noch jemand an den 9. November 1938 gedacht.

In diesem Sinne beinhalten Gedenksteine und Mahnmale vielleicht am ehesten eine ständige Aufforderung an die Menschen, sich mit den Schicksalen, die in den Steinen symbolhaft Gestalt angenommen haben, zu beschäftigen, nachzudenken und dabei auch danach zu fragen, ob und inwieweit bestimmte Merkmale inhumanen Verhaltens tatsächlich völlig verschwunden sind.

Machen wir es uns nicht zu leicht und schauen nur nach Hoyerswerda.

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