Ansprache von Stadtdirektor Günter Hemminghaus anlässlich
der Feierstunde am 04. Nov. 1991
Sehr geehrte, liebe Frau Spiegel!
Sehr geehrter, lieber Herr Spiegel!
Sehr geehrter Herr Landesrabbiner Barsilay!
Liebe junge Menschen hier in der Aula!
Meine Damen und Herren!
Ich bin in der Landgemeinde Holsen aufgewachsen - 5 km vom Hücker-Holz entfernt von dem Ort, an dem Franziska Spiegel am 04.11.1944 meuchlings ermordet wurde - heute genau vor 47 Jahren.
Ich war damals 14 Jahre alt. Ich erinnere mich, dass der Nationalsozialismus in Holsen auf Zustimmung und Begeisterung, aber auch auf Distanz und mehr oder weniger starken Widerstand stieß. Die Ergebnisse der ersten Kommunalwahl unter dem Nationalsozialismus am 12. März 1933 bestätigen das. Etwa 50% der Wähler waren für, 50% gegen die Nazis. In dem benachbarten Zentralort Bünde erreichten die Nazis mehr als 70%.
Ich bin in einer zwiespältigen Welt aufgewachsen. Meine Eltern hielten nichts vom Nationalsozialismus. Sie sagten das auch in meiner Gegenwart und in der meines jüngeren Bruders. In der Schule dagegen versuchte man, uns nationalsozialistisch zu erziehen; auch im Jungvolk, dem ich als 10-jähriger 1940 beitreten musste. Gleichzeitig besuchte ich den Katechumenen- und Konfirmandenunterricht bei Pastor Dreyer, der als naziunfreundlich galt.
Meine spätere Entwicklung hat gezeigt, dass die Einflüsse des Elternhauses und der Kirche bei mir stärker waren als die der anderen Kräfte.
Ich erinnere mich an den Kriegsausbruch im September 1939, an die vielen Fanfarenstöße der ersten Jahre, mit denen Sondermeldungen eingestimmt wurden, aber auch an die späteren "planmäßigen Rückzüge", die das Ende des Krieges einläuteten.
Ich erinnere mich daran, dass die Zahl der Todesanzeigen von Gefallenen zunahm und in der Schule immer mehr Mitschüler den Tod von Vätern und Brüdern beweinten. Ich erinnere mich, dass die alliierten Bomberverbände den Himmel über unserer Heimat verdunkelten und wir Kinder Schafgarbe und Lindenblüten sammeln und Ernteeinsätze leisten mußten, um den Krieg zu gewinnen; einen Krieg, der damals schon verloren war, wie eigentlich jedes Kind wußte. Sagen durfte man das nicht. Wer das trotzdem tat, lief Gefahr, wegen Wehrkraft-Zersetzung zum Tode verurteilt zu werden. So einfach war das damals.
Ich erinnere mich, je mehr ich nachdenke.
Ich erinnere mich auch an die Reichspogromnacht, an den 2. Tag danach. Ich bin damals als 8jähriger mit einem klapprigen Fahrrad von Holsen nach Bünde gefahren, um mir das demolierte jüdische Gebäude Spanier am heutigen Goetheplatz mit seinen gähnenden Fensterhöhlen und den verstreut auf dem Hofe herumliegenden Textilien anzusehen - mit großen, unverständlichen Augen. Die Empörung in Bünde und Umgebung war groß, wie in dem Buch von Norbert Sahrhage "Bünde zwischen Machtergreifung und Entnazifizierung“ zu lesen ist. Es gab aber auch Zustimmung – zuviel.
Ich erinnere mich vor allem aber an den 5. November 1944, einen Sonntag. An dem Tage ging in Holsen das Gerücht, dass die SS im Hücker-Holz eine Jüdin erhängt habe. Einfach so, nur, weil sie Jüdin war.
Ich erinnere mich, dass ich traurig und geschockt war, dass ich Mitleid hatte mit den Angehörigen.
Vor meinem inneren Auge sah ich damals einen großen Baum mit einer weiblichen Leiche. Dieses Bild hat sich förmlich in mein Gedächtnis eingegraben. Das war 1944.
Mehr als 40 Jahre später studierte ich an langen Abenden im Winter 1985/86 alte Akten, um Material zu finden für den Artikel "175 Jahre Spenger Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Zeitraffer, der im April 1986 anläßlich des 175jährigen Bestehens der Neuen Westfälischen Zeitung veröffentlicht wurde.
Meine Damen und Herren!
Geschichte macht neugierig. Ich habe weiter - unter anderem auch in den gemeindlichen Gendarmerieakten aus dem 2. Weltkrieg - geblättert. Dabei stieß ich auf eine Anzeige von Angehörigen einer jungen Frau aus Lenzinghausen, die ein Verhältnis mit einem polnischen Zwangsarbeiter hatte. Der Pole wurde kurzerhand aufgehängt - einfach so. Ein Menschenleben spielte damals keine Rolle, Rechtsstaatlichkeit war ein Fremdwort.
Die junge Frau kam ins KZ und wurde nach einiger Zeit entlassen. Danach wurde sie vermißt. Später fand man sie bei Verwandten in Herford.
Zur Anzeige zurück:
Dort stand geschrieben, dass man befürchte, dass der vermißten Frau das zugestoßen sei, was am 04.11.1944 der Jüdin Franziska Spiegel im Hücker-Holz widerfahren sei. Meine Kindheitserinnerungen holten mich ein. Ich war wie elektrisiert und wollte mehr wissen. Ich wollte wissen, was an jenem 4. November tatsächlich in dem zu Spenge gehörenden Hücker-Holz passiert war, welches Schicksal sich hinter dem Namen Franziska Spiegel verbarg.
Das erste, was ich in die Hand bekam, war der Geheimbericht des früheren Spenger Amtsbürgermeisters vom 05.11.1944 an Gestapo und Landrat. Kalt und unpersönlich wird in diesem Bericht von einer "Frauensperson" gesprochen, deren Körper noch warm gewesen sei als man ihn gefunden habe. Auf dem Rücken sei ein Zettel mit den Worten "Sie war eine Jüdin“ befestigt worden. Weiter ergibt sich aus dem Bericht, dass Franziska Spiegel von zwei SS-Leuten erschossen wurde. Einfach so, nur, weil sie eine Jüdin war.
So war das damals in dem Lande, das immer so stolz auf seine Dichter und Denker, auf seine Humanisten, Romantiker und Komponisten ist. Wie sagt doch Paul Celan in seinem Gedicht "Todesfuge": "Er greift nach dem Eisen im Gurt - er schwingt's - seine Augen sind blau" und "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Sein Auge ist blau, er trifft dich mit bleierner Kugel, er trifft dich genau".
Celans Gedicht sind Verse an die von den Nationalsozialisten ermordete Mutter. Wir alle haben Mütter.
Auch Franziska Spiegel war Mutter. Mutter des damals 14 Jahre alten Sohnes Rolf. Er lebt heute in Australien. Deutschland konnte ihm keine Heimat geben. Deutschland, das ihm seine Mutter nahm und seine Kindheit stahl. Er kann weder vergessen, noch verzeihen. Ich kann ihn verstehen und frage mich, ob ein Mensch mit dieser Last überhaupt noch in seinem Leben innere Ruhe finden kann.
Meine Damen und Herren!
Franziska Spiegel wohnte zurückgezogen in einem abseits gelegenen Haus in Werfen, in einem Gebäude, das sich förmlich versteckte, um nicht aufzufallen, das sich duckte, wie Franziska Spiegel.
Sie war mit Gottfried Spiegel verheiratet, einem Arier, wie die Nazis das nannten. Gottfried Spiegel ist heute mit seiner zweiten Frau Gretel unter uns; nicht so selbstverständlich für einen erkrankten, über 85 Jahre alten Mann. Ich danke Ihnen, Frau Spiegel, und Ihnen, Herr Spiegel, dass sie dabei sind und zu dieser Ehrung Ihr Einverständnis gegeben haben. Danke.
Ich weiß, dass dieser Tag ein schwerer Tag für Sie ist
Meine Damen und Herren!
Am 04.11.1944, nachmittags, wurde Franziska Spiegel von zwei SS-Leuten abgeholt. 3 km lang war der Weg durch die Werfener Felder zum Hücker-Holz. Nachbarn haben sie beobachtet - die zarte Frau zwischen den starken Männern. Sie haben sie beobachtet voller Mitleid und ohnmächtiger Wut. Sie hörten einen Schuß, der das Leben von Franziska Spiegel auslöschte - einfach so, nur, weil sie Jüdin war.
Meine Damen und Herren!
Holocaust war damals überall; auch in dem abseits gelegenen Hücker-Holz. Wie sagt doch Paul Celan "Der Tod ist Meister in Deutschland. Sein Auge ist blau, er trifft dich mit bleierner Kugel, er trifft dich genau“.
Der Bericht des Spenger Amtsbürgermeisters reichte mir nicht. Ich wollte mehr wissen. Ich recherchierte auf dem Hof Büscher in Werfen, zu dem das Haus Spiegel gehört. Ich fragte in der Nachbarschaft und erkundigte mich in Hücker-Aschen. Überwiegend waren die Menschen gesprächsbereit. Das Material habe ich einige Zeit später dem heute auch anwesenden Journalisten Horst Chudzicki übergeben, wissend, dass es bei ihm gut aufgehoben war und dass er es eines Tages zur Wirkung bringen würde.
Horst Chudzicki hat weiter recherchiert und am 9. November 1988 - am 50. Jahrestag der Pogromnacht - unter der Überschrift "Franziska Spiegel wurde am 04.11.1944 im Hücker-Holz ermordet - sie war eine Jüdin" berichtet. Der Artikel schlug in Spenge wie eine Bombe ein. Spenge wurde durch die Vergangenheit eingeholt, mußte sich der Geschichte stellen. Hat es getan. Die heutige Gedenkstunde ist ein augenfälliger Beweis dafür.
Meine Daunen und Herren!
Der von ethischen Maßstäben, von historischem Verantwortungsbewußtsein und großem Geschichtsinteresse getragene Artikel ist eine journalistische Glanzleistung. Mit innerem Engagement, packend, aufrüttelnd, hat uns Horst Chudzicki das Schicksal von Franziska Spiegel nähergebracht - sensibel, erinnernd und mahnend. Seine analytische Schärfe und historische Urteilskraft verdienen, besonders erwähnt zu werden.
Ihnen, Herr Chudzicki, möchte ich heute Nachmittag besonders danken, Sie und die Vertreter der anderen Medien möchte ich bitten, weiter dabei zu helfen, dass wir aus der Geschichte lernen, dass wir einem dunkelen Abschnitt unserer Vergangenheit mit Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit begegnen, dass wir alles tun, damit sich das Geschehene nicht wiederholt und der Weg der Versöhnung mit dem Jüdischen Volk fortgesetzt wird. Eine besondere Herausforderung gerade für uns Christen.
Meine Damen und Herren!
Zur Aussöhnung gehört in erster Linie das Erinnern. Erinnern macht Vergangenes gegenwärtig. Die alte jüdische Weisheit, wonach das Vergessenwollen das Exil verlängert, und das Geheimnis der Erlösung Erinnerung heißt, gibt eine alte Menschheitserfahrung wieder. Weil das so ist, müssen wir noch mehr als bisher unternehmen, damit das Geschehen nicht der Vergangenheit anheimfällt, dass es immer wieder bewußt gemacht wird
in Gedenkstunden, wie dieser hier,
im Unterricht der Schulen,
in der politischen Bildung,
in der kirchlichen Arbeit,
in der Begegnung mit den Stätten, an denen Menschen gelitten haben und gestorben sind. So auch in der Begegnung mit dem Gedenkstein im Hücker-Holz, in dem das blühende Leben von Franziska Spiegel brutal ausgelöscht wurde.
Meine Damen und Herren!
Der Fraktion "DIE GRÜNEN" ist es zu verdanken, dass Spenge nach dem NW-Bericht vom 09.11.1988 nicht zur Tagesordnung überging. Mit dem Antrag, die Gesamtschule nach Franziska Spiegel zu benennen, wurde das Schicksal dieses tapferen Menschenkindes erneut in das Bewußtsein gerückt. Wir wollen mit unserem Vorschlag ganz bewußt den Weg gehen, hier ein Opfer zu ehren und anzuerkennen, das stellvertretend für die millionenfachen Massenmorde an den Juden steht", so heißt es in dem Antrag. Nachdem sich der Rat für die Bezeichnung "Regenbogen-Gesamtschule" ausgesprochen hat, beschloß der Kulturausschuß, das Schicksal von Franziska Spiegel zu thematisieren.
Spürend, dass Geschichte auch ist, wie Franziska Spiegel gelitten hat und gestorben ist.
Spürend, dass Geschichte am eindrucksvollsten in einem konkreten Beispiel vermittelbar ist,
wissend, dass wir uns auch hier in Spenge nicht aus der Geschichte herausstehlen können, zugeben müssen, dass wir schuldig geworden sind, Farbe bekennen müssen,
hoffend, dass Gott uns unsere Schuld vergibt.
Es gereicht dem Kulturausschuß mit Gerhard Heining an der Spitze zur Ehre, dass er mit all seinen Fraktionen engagiert ein Stück Spenger Geschichte aufgearbeitet hat. Dem Ausschuß ist es gelungen, das Schicksal von Franziska Spiegel hineinzustellen in den geschichtlichen Zusammenhang und einen Bogen zu schlagen in unsere Gegenwart - zu Erscheinungen wie Neonazismus, Rassismus, Ausländerfeindlichkeit.
Meine Damen und Herren!
Wer hierzu schweigt, macht sich mitschuldig. Lassen Sie uns alle daran arbeiten, dass der Traum von Heinrich Heine, wie er ihn in seinem Gedicht "In der Fremde" ausgedrückt hat, bei uns Wirklichkeit wird und bleibt. Ich zitiere: "Ich hatte einst ein schönes Vaterland. Der Eichenbaum wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft. Es war ein Traum. Das küßte mich auf deutsch und sprach auf deutsch - man glaubte kaum, wie gut es klang - das Wort "ich liebe dich". Es war ein Traum.
Meine Damen und Herren!
Geschichte macht betroffen und neugierig, sie lebt in uns, durch uns, prägt unser Leben. In mir wuchs der Wunsch, den Ehemann der ermordeten Franziska Spiegel kennenzulernen. Inzwischen sind wir uns mehrmals in unseren Wohnungen begegnet. Wir sind Freunde geworden. In den Gesprächen mit Gottfried Spiegel und seiner verständnisvollen, ihn tragenden und stützenden Frau Gretel habe ich Geschichte aus der Sicht und dem unmittelbaren Erleben eines Opfers der damaligen Zeit erfahren. Die Gespräche mit ihm haben mich berührt und mir neue Einsichten vermittelt.
"Ich liebe meine Frau heute noch", das hat er mir immer wieder in seiner gediegenen, mit alten Möbeln ausgestatteten gemütlichen Wohnung bei Siegen gesagt. "Sie war eine stille, eine gütige Frau, eine gute Mutter und hilfsbereite Nachbarin. Sie konnte Klavier spielen und hübsch war sie auch", so Gottfried Spiegel weiter.
Meine Damen und Herren!
Das, was Gottfried Spiegel über seine Frau gesagt hat, habe ich auch von den Nachbarn in Werfen gehört. Sie mochten Frau Spiegel.
"Hätte ich meiner Frau doch nur den Weg von unserer Wohnung zur Hinrichtungsstätte im Hücker-Holz abnehmen können", eine weitere Bemerkung dieses leidgeprüften Mannes, der daran erinnert, dass seine Frau unterwegs geschlagen und getreten wurde. Nachbarn wollen gehört haben, dass sie darum bat, schon vor dem Haus erschossen zu werden. Sie ahnte, dass der Weg zum Hücker-Holz ein Weg ohne Umkehr, ein Weg in den Tod war.
Ich bin in den letzten Jahren mehr als einmal mit meiner Frau durch die Felder von Werfen gegangen. Ich habe mich immer wieder gefragt, was wohl in dem Kopf von Frau Spiegel, was wohl i n den Köpfen der Mörder vorgegangen sein mag. Ich habe mich gefragt, ob der Tod von Franziska Spiegel hätte verhindert werden können. Fragen über Fragen, Fragen ohne Antwort. Ich bin sprachlos über das, was Menschen anderen Menschen antun können.
Blutgetränkte Erde des Hücker-Holzes, aufbewahrt in einer Flasche, wird Gottfried Spiegel, dem damals alle Fotos seiner Frau von der Gestapo weggenommen wurden, mit in sein Grab nehmen.
"Wir haben 1928 geheiratet. 1930 wurde unser Sohn Rolf geboren. Kurz nach seiner Geburt begannen die ersten Verfolgungen, flogen die ersten Steine und Flaschen durch unser Wohnzimmerfenster in Schleswig-Holstein, wurde ich geschlagen, weil ich mit einer Jüdin verheiratet war", erzählt Gottfried Spiegel.
Meine Damen und Herren!
Mit dem Raub der menschlichen Würde fing es damals an; mit dem Verbot des Betretens von Geschäften und öffentlichen Einrichtungen, mit dem Tragen des Juden-Sterns ging es weiter. Die Schikanen eskalierten im Laufe der Zeit, wurden zu Verbrechen. Mit dem Holocaust, mit den Vernichtungslagern von Auschwitz und Theresienstadt fand die erbarmungslose Erniedrigung und Verfolgung der jüdischen Mitbürger ihr schreckliches Ende.
Die Familie Spiegel war damals ständig auf der Flucht, kam nicht zur Ruhe. Stationen waren u.a. Schleswig-Holstein, das Ruhrgebiet, das Sauerland und schließlich das stille Werfen an der Else. In den letzten Jahren des Krieges mußten sich Frau Spiegel und ihr Sohn alle 14 Tage bei der Gestapo in Bielefeld melden. Sie waren schon für einen Vernichtungstransport eingeplant. Nur durch einen glücklichen Umstand - sie kamen zu spät auf dem Bahnhof Bielefeld an - entgingen sie dem Konzentrationslager.
Es wurden ihnen Lebensmittelkarten vorenthalten.
die Wohnung durfte, um unvermutete Kontrollen sicherzustellen, nicht verschlossen werden.
Herr Spiegel, der nach 2-jähriger Wehrmachtszeit 1943 verwundet nach Hause zurückkam, mußte für den halben Lohn arbeiten.
Auf den verschiedenen Arbeitsplätzen wurde er schikaniert und gequält, z.B. mit glühender Asche beworfen und seine Arbeitsleiter angesägt.
Jahrelang wurde er unter Druck gesetzt, die Ehe aufzulösen.
Andere haben diesem Druck nachgegeben und sich scheiden lassen, Gottfried Spiegel nicht. Er hat seiner Frau die Treue gehalten, bis der gewaltsame Tod sie schied. Der Tod, der in Deutschland Meister ist.
Gottfried Spiegel wörtlich:
"Die hätten mich mit dem Tod bedrohen können, ich hätte meine Frau nicht verlassen. Ich wußte, dass eine Trennung schon bald den Transport in ein Vernichtungslager zur Folge gehabt hätte".
Meine Damen und Herren!
Stellen Sie sich einmal vor: 15 Jahre lang waren Angst, Demütigungen, Haß und Verfolgung - alles, was sich pervertierte Gehirne ausdenken können - ständige Begleiter dieser Familie. Ich schäme mich für das, was Deutsche den Juden angetan haben.
Meine Damen und Herren!
Die Zeit reicht nicht aus, um hier und heute zu schildern, was sich das menschenverachtende und menschenzerstörende System damals alles einfallen ließ, um die jüdischen Mitbürger zu quälen - brutal und erbarmungslos. Es waren furchtbare Jahre, ohne jedes Rechtsempfinden, ohne Mitleid.
So wurde dem leidgeprüften Mann zum Beispiel auch verboten, den Leichnam seiner Frau auf deinem Friedhof zu bestatten. Zusammen mit einem 16Jährigen ukrainischen Zwangsarbeiter, dem Franziska Spiegel wie ihren eigenen Sohn zur Seite stand, hat Herr Spiegel seine Frau bei strömendem Regen und in dunkler Nacht auf einer Wiese an der Grenze von Werfen/Hücker-Aschen bestattet. Nach dem Krieg wurde Franziska Spiegel exhumiert. Auf einem Friedhof in Minden fand sie ihre letzte Ruhe.
Ein mutiger Tischlermeister aus Ennigloh stellte damals - obwohl verboten - bei Gefahr für Leib und Leben einen Sarg zur Verfügung. So etwas gab es auch. Menschen, die Menschlichkeit zeigten, die jüdischen Mitbürgern halfen. Gottfried Spiegel kann auch darüber berichten.
Lieber Herr Spiegel!
Sie sind ein mutiger Mann. Sie haben in schweren Zeiten Charakterfestigkeit und Zivilcourage gezeigt. Widerstand gegen ein unmenschliches Regime geleistet. Sie haben ein Beispiel gegeben, sind eine moralische Instanz.
Mit Ihrem historischen Erfahrungsschatz sind Sie ein Zeitzeuge von beachtlichem Format. Wir versprechen Ihnen, die Botschaft des heutigen Tages mit Herz und Hirn zu leben und weiterzutragen.
Meine Damen und Herren!
Franziska Spiegel ist 39 Jahre alt geworden. Sie ist zu früh gestorben. Sie hat die Sonne nicht zu Ende gesehen, das Leben nicht zu Ende gelebt. Ihr war es nicht vergönnt, glücklich zu sein und in Deutschland Heimat zu finden. Ruhe fand sie erst im Tod. Ihr Tod ist uns Mahnung und Verpflichtung.
© Stadt Spenge