Ansprache von Landesrabbiner Dov-Levi Barsilay anlässlich
der Feierstunde am 4.11.1991

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Gedenkdaten und Gedenkveranstaltungen - gerade dieser Art – veranlassen uns Menschen doch in der Regel, uns wehmütig an die traurigen, schlimmen Ereignisse zu erinnern, die diesen Gedenktagen zugrunde liegen.

Sie veranlassen aber auch zum Nachdenken; zum Nachdenken über Ereignisse und Anlässe, die uns in letzter Zeit mittelbar oder unmittelbar betreffen, sie veranlassen uns darüber nachzudenken, inwieweit Geschehnisse von gestern und heute uns und unsere Familien berühren.

Wir gedenken heute der durch die nationalsozialistische Barbarei ermordeten Franziska Spiegel

Wir Juden gedenken aber auch in diesen Tagen aller Opfer und Märtyrer des
Nationalsozialismus in den Jahren 1933 bis 1945.

In einigen Tagen, am 9. November nämlich, gedenken wir der Zerstörung der Synagogen im Deutschen Reich und der Vernichtung tausender blühender jüdischen Gemeinden und damit des eigentlichen physischen Beginns der „Shoa“, des Holocausts.

Hier und heute versetzen wir uns im Erinnern in die Gegenwart von damals, in die Tage des Niederbrennens, der Zerstörung, der Folterung von Menschen, als viele Bürger sich abwandten von denen, die bis 1933 doch ihre selbstverständlichen Nachbarn, Kollegen und Mitschüler gewesen waren, bis sie durch staatliche Regelungen mehr und mehr gedemütigt, entrechtet und zu Fremden erklärt wurden.

Viele weinten damals, auch Nichtjuden; und viele sagten ihren Kindern – obwohl das doch gefahrvoll sein konnte, sagten sie es - "So etwas kann nicht gut ausgehen!" Aber dennoch, die Mehrheit schwieg, wenn sie nicht gar mitmachte. So begann damals die Vertreibung der deutschen Juden aus ihrer Heimat. So setzte sich die Verarmung deutscher Kultur fort, die spätestens mit der Bücherverbrennung begonnen hatte.

So begann unsere Gegenwart, in der so oft bedauert wird, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nur wenige Zehntausende umfasst.

Aus der Vergangenheit erwuchs für die Heurigen ein neues Besinnen auf Mitmenschlichkeit, auf Verantwortung - begann bereits vor Jahren das Fragen danach, wie eigentlich Vorurteile entstehen und in Haus, Schule und Kirche als Tatsachen weitergegeben werden.

Zunehmend erarbeiten sich Lehrer und Theologen die Erkenntnis, dass Vorurteile vor allem dem schaden, der sie für wahr hält. Auch wo es keine Juden gibt, auch wenn man noch nie mit einem Juden sprach, weiß man oft ganz genau, "die Juden" tun, was sie glauben, falsch machen; dass sie klüger sind als andere - auch dieses dumme Vorurteil finden wir oft genug.

Dass gegen alle diese Vorurteile von vielen Verantwortlichen in diesem Land gearbeitet wird, ist für uns Juden ein Grund für Vertrauen in die Gegenwart und Hoffnung auf die Zukunft. Gedenkveranstaltungen zwingen uns geradezu, auch über unsere Ängste und Sorgen zu sprechen.

Und wer dieses Aussprechen als Vorwurf empfindet - was ich persönlich sehr bedauern würde - hat einfach unsere Problematik hier nicht verstanden. Es ist nämlich wichtig zu wissen: die jüdischen Menschen wurden vertrieben und ermordet, die jüdischen Gemeinden in Deutschland wurden vernichtet, es gibt sie nicht mehr, es wird sie auch so nie wieder geben.

Jüdische Gemeinden in Deutschland, die sich nach 1945 konstituiert haben, stehen in keiner wie auch immer gearteten Kontinuität zu jüdischen Gemeinden Deutschlands der Zeit vor 1933.

Sie sind keine in Jahrzehnten der Ruhe harmonisch gewachsenen Einheiten. Sie sind kurz nach der größten Tragödie des jüdischen Volkes dort entstanden, von wo die Tragödie ihren Ausgang nahm

Sie entstanden damals als eine Art Großfamilie, aus deren schützender Umfassung heraus das physische Weiterleben des Einzelnen ermöglicht wurde. Es waren, Anfang der 50er Jahre, auf den Augenblick hin zweckgerichtete und nicht in die Zukunft weisende Gründungen, die streng genommen den Zustand des Provisoriums erst heute, ganz langsam, abzulegen versuchen.

In der Gegenwart wird also jüdisches Leben hier durch jüdische Gemeinden repräsentiert, die in ihrer Problematik als Folge der Katastrophe nur ungenügend verstanden und akzeptiert werden.

Wie viel Mut und ungeheures Vertrauen müssen wohl die Gründer dieser Gemeinden damals gehabt haben, um sich wieder da niederzulassen, wo sie seinerzeit mit Schmach und Schande auf einen Weg geschickt wurden, von dem es eigentlich kein Zurück mehr gab?

Heute, meine Damen und Herren, leben wir in einem Land, das vor kurzer Zeit erst seine Nationale Einheit wiederherstellen konnte. Trotz großer Bedenken und Befürchtungen stand auch für uns Juden freudiges Empfinden über die friedlich erfolgte Vereinigung beider deutscher Staaten im Vordergrund; insbesondere schon deshalb, weil mit der DDR ein Staat von der Weltbühne abgetreten ist, der den Staat Israel nie anerkennen wollte, der an schlimmsten antijüdischen und antiisraelitischen Handlungen, letzteres sogar noch bis kurz vor der Vereinigung, beteiligt war.

Und dennoch haben wir Sorgen, was die Begleiterscheinungen zur Vereinigung anbetrifft.

Es sind z.B. die seit dem 9. November 1989 immer lauter gewordenen Parolen, dass die Vergangenheit und damit die Verantwortung für die vom nationalsozialistischen Deutschland begangenen Taten endgültig ad acta gelegt werden.

Es sind aber auch Erscheinungen der Gegenwart in Ost und West, die unter dem Begriff „Hoyerswerda“ vor unseren Augen wieder ein Stück tragischer Geschichte Revue passieren lassen.

Dass heute, im Jahre 1991, hierzulande wieder Diskriminierungen und Pogrome stattfinden, ja stattfinden können, macht uns und insbesondere unseren neuen Gemeindemitgliedern aus der Sowjetunion große Angst. Solchen Tendenzen gilt es, meine Damen und Herren, gemeinsam  entgegenzuwirken.

Gemeinsam ...    Nachkommen von Tätern und Nachkommen von Opfern.

Ich habe eingangs von der Hoffnung auf eine gemeinsame, bessere Zukunft gesprochen, die aber ohne Annahme der Vergangenheit - und zwar der ganzen Vergangenheit - nicht möglich ist.

Wir Juden wollen heute wieder das Versprechen erneuern, dass wir das Andenken unserer Märtyrer immer in Ehren halten werden. Wir alle sollten aus der verpflichtenden Erinnerung heraus handeln und unsere ganze Kraft darauf richten, für eine Zukunft zu sorgen, in der die Annahme des jeweils anderen die Garantie der eigenen Freiheit darstellt.

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